Im Rahmen der Veranstaltungsreihe 'Europa am Dienstag' nahmen am 17.06.25 im Grashaus 27 Teilnehmer*innen und 20 weitere online an einem Vortrag mit anschließender Diskussion zum Thema "Europas Verteidigung unter Druck: Wie kriegstüchtig will Europa werden?" teil. Als Referent sprach Prof. Rotte, moderiert wurde die Veranstaltung von Eva Onkels. Zu Gast war das Hochschulradio Aachen, das im Anschluss der Veranstaltung ein Interview mit dem Referenten durchführte.
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Diese Webseite verwendet YouTube Videos. Um hier das Video zu sehen, stimmen Sie bitte zu, dass diese vom YouTube-Server geladen wird. Ggf. werden hierbei auch personenbezogene Daten an YouTube übermittelt. Weitere Informationen finden sie HIERNach einer kurzen Einführung und Begrüßung durch Andreas Düspol, Leiter des Internationalen Zeitungsmuseums, stellte sich der Referent vor. Ralph Rotte ist Universitätsprofessor für Politikwissenschaft am Institut für Politische Wissenschaft der RWTH Aachen. Seine Interessen in Forschung und Lehre liegen u.a. in den Bereichen Außen- und Sicherheitspolitik westlicher Demokratien, empirisch-historische und politökonomische Kriegs- und Konfliktforschung sowie in der internationalen politischen Ökonomie.
Zu Beginn stellte Professor Rotte in seinem Vortrag den derzeitigen Kontext der europäischen Sicherheitspolitik dar. Er betonte, dass die Europäische Union aktuell mit neuen internationalen Herausforderungen konfrontiert ist – etwa durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und die sich verschlechternden Beziehungen zu den USA und damit auch zur NATO. Er fasste die gegenwärtigen Herausforderungen in fünf zentralen Problemfeldern zusammen:
1. Bedrohungsanalyse- und Wahrnehmung
Europa hat in den Jahren nach 1990 vor allem von den Vorteilen des Friedens profitiert und sich verstärkt auf Verbündete zur Verteidigung verlassen - so beispielsweise die NATO. Die Vereinigten Staaten werden jedoch von Europa zunehmend nicht mehr als verlässlicher Verbündeter wahrgenommen. Russland betrachtet die Erweiterung von NATO und EU als existenzielle Bedrohung und lehnt diese entschieden ab. Aus russischer Sicht befindet sich das Land bereits in einem – bislang noch nicht militärisch ausgetragenen – Konflikt mit dem Westen, insbesondere mit den USA, mit dem Ziel, eine neue multipolare Weltordnung unter russischer Führung in Europa zu etablieren. Unter Präsident Putin verfolgt Russland eine revisionistische Außenpolitik und schreckt auch vor militärischen Interventionen nicht zurück. Es lässt sich erkennen, dass Russland aufrüstet und auch vor nuklearen Drohungen nicht zurückschreckt. Diese Entwicklungen führen vor allem in den baltischen Staaten und in Polen zu einer starken Bedrohungswahrnehmung. In Westeuropa hingegen gehen die Einschätzungen zur Bedrohung durch Russland und der Umgang damit zum Teil deutlich auseinander.
2. Kriegsbild
Im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion über die „Zeitenwende“ steht vor allem der Ausbau der Bundeswehr. Es bestehen jedoch grundlegende Herausforderungen, wie die Notwendigkeit, mit dem technologischen Fortschritt Schritt zu halten und sich an neue Bedingungen anzupassen. Der aktuelle sicherheitspolitische Kontext ist geprägt von hybrider Kriegsführung, bei der neben militärischen Mitteln auch Cyberangriffe, Desinformation und die Beeinflussung politischer Prozesse eingesetzt werden, um die Gesellschaft des Gegners zu schwächen. Denkbar seien in einem Falle des Krieges mit Russland unter anderem eine Besetzung des Baltikums, nukleare Drohungen und grenzüberschreitende Angriffe, beispielsweise auf Finnland, um die Solidarität der NATO zu testen.
3. Ressourcen
Die NATO rüstet auf, arbeitet an neuen Modellen und die Bundeswehr versucht aufzustocken. Es gibt jedoch besonders bei Artillerie, bodengestützter Luftabwehr, Logistik, Munition, Aufklärung und Personal erhebliche Mängel. Deutschland übernimmt als „NATO-Drehscheibe“ eine zentrale Rolle bei Infrastruktur und Logistik. Der „Operationsplan Deutschland“ erfordert dabei eine enge, aber herausfordernde Zusammenarbeit mit der zivilen Logistikbranche, die jedoch nur schwer zu bewältigen ist. Die Rüstungsindustrie steht vor Problemen wie fehlender Planungssicherheit, langen Lieferzeiten, internationaler Konkurrenz und schwieriger europäischer Kooperation. Zusätzlich sind Cybersicherheit, Zivilschutz und Desinformationskampagnen wichtige Herausforderungen.
4. Verteidigungsbereitschaft
Seit 2022 wird Russland in Deutschland und der EU zunehmend als Bedrohung wahrgenommen. Die Mehrheit befürwortet höhere Verteidigungsausgaben und eine stärkere Aufrüstung. Allerdings ist die Bereitschaft, persönlich zur Verteidigung beizutragen, gering - insbesondere in westeuropäischen Staaten wie Italien und Deutschland. In diesem Zusammenhang wird auch über die Wiedereinführung der Wehrpflicht und eine stärkere zivile Verteidigung diskutiert, ähnlich wie in skandinavischen und baltischen Ländern.
5. Europäische Strategie und Sicherheitspolitik
Die EU verfügt mit GASP, GSVP, dem Europäischen Verteidigungsfonds und Artikel 42 (7) EUV über verschiedene Instrumente der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Allerdings gibt es weiterhin große Probleme: Nationale Vorbehalte, unterschiedliche Verfassungen und fehlende gemeinsame Bedrohungswahrnehmungen erschweren eine einheitliche Verteidigungspolitik. Zudem bleibt die NATO für viele Staaten der wichtigste Sicherheitsgarant. Trotz neuer Initiativen wie „ReArm Europe“ bestehen weiterhin Herausforderungen bei der Koordination von Rüstungs- und Verteidigungsanstrengungen. Zwar verfügt die EU grundsätzlich über wirtschaftliche, technologische und militärische Fähigkeiten, doch die Frage der nuklearen Abschreckung und das Selbstverständnis der EU als eigenständige Sicherheitsmacht bleiben offen.
Prof. Rotte betont zum Ende seines Vortrages die dringende Notwendigkeit eines realistischen Diskurses über Verteidigung in Europa und der EU, inklusive Debatten über die Wehrpflicht und Nuklearstrategie.
Nach dem Vortrag konnten die Teilnehmer*innen dem Referenten Fragen stellen, was sich zu einer sehr lebhaften Diskussionsrunde entwickelte. Diskutiert wurde beispielsweise über die Wehrpflicht in Deutschland. Hierbei zeigten sich die Meinungen unter den Teilnehmer*innen gespalten. Während einige für eine Ausweitung der Wehrpflicht, auch für Frauen, diskutierten, betonten andere, dass vor allem junge Menschen in Deutschland zunehmend eine Wehrpflicht ablehnen. Auch diskutiert wurde darüber, wie man sachliche Debatten in der Öffentlichkeit und in den Medien ermöglichen kann. Prof. Rotte betonte, dass vorherige Versuche der Bürger*innenbeteiligung oft gescheitert sind, in Talkshows und im Fernsehen einseitige Argumente und prägnante Aussagen getroffen werden, und plädierte für mehr Aufklärung, Bildung und Fakten-Checks, die Desinformation offenlegen. Man solle auch Raum für ehrliche Debatten über Pazifismus schaffen, dabei jedoch nicht die Realität und die Fakten aus den Augen verlieren.
Im Anschluss an die Veranstaltung führte das Hochschulradio Aachen ein Interview mit Prof. Ralph Rotte zum Thema Verteidigungspolitik.
- Aufzeichnung der Veranstaltung auf YouTube
- Kurzlink auf diesen Artikel: https://ogy.de/Verteidigung-EaD